Experten veröffentlichen Konsensus zur Risikoklassifikation für das multiple Myelom
Veröffentlicht: 24. September 2013 16:06



Die Internationale Myelom Arbeitsgruppe (International Myeloma Working Group, abgekürzt IMWG), die aus einer internationalen Gruppe von Myelomexperten besteht, hat kürzlich einen Konsensusbericht zur Risikoklassifikation von Patienten mit multiplem Myelom veröffentlicht.
Die Risikoklassifikation bezieht sich auf die Einteilung von Patienten in verschiedene Risikokategorien auf Grundlage des wahrscheinlichen Krankheitsverlaufs.
Die neue IMWG-Risikoklassifikation hat drei Risikokategorien: niedriges, Standard- und hohes Risiko.
In dem neuen System basiert die Einteilung eines Patienten in eine Risikogruppe auf drei Faktoren: das Krankheitsstadium eines Patienten gemäß des internationalen Staging Systems (ISS); die Anwesenheit bestimmter, auf Grundlage der so genannten FISH-Untersuchung ermittelter chromosomaler Abnormitäten in den Myelomzellen des Patienten und das Alter des Patienten.
Patienten, die ISS Stadium II oder III sind und deren Myelomzellen die Translokation t(4; 14) oder die Deletion del(17p13) enthalten, werden als risikoreich eingestuft. Ungefähr 20 Prozent der Patienten fallen zum Zeitpunkt der Diagnose in diese Kategorie. Ihr mittleres Gesamtüberleben beträgt zwei Jahre nach Diagnosestellung.
Patienten, die ISS Stadium I oder II und jünger als 55 Jahre sind und deren Myelomzellen keine t(4; 14), del(17p13) oder 1q21-Veränderungen enthalten, werden in die niedrige Risikogruppe eingestuft. Ungefähr 20 Prozent der Patienten fallen zum Zeitpunkt der Diagnose in diese Kategorie. Ihr mittleres Gesamtüberleben beträgt mehr als 10 Jahre nach Diagnosestellung.
Die restlichen 60 Prozent der Patienten werden in die Standardrisikogruppe eingestuft. Ihr mittleres Gesamtüberleben beträgt sieben Jahren nach Diagnosestellung.
Obwohl die Expertengruppe sich darauf einigen konnte, wie man Patienten in die niedrige, Standard- und hohe Risikogruppe einteilt, empfiehlt sie nicht, dass ihre Einteilung zur Bestimmung der initialen Therapie eines Myelompatienten verwendet wird.
Einige grössere Behandlungszentren - insbesondere die Mayo Klinik - bevorzugen den "risikoangepassten" Ansatz bei der Myelomtherapie, in der die initiale Therapie eines Myelompatienten durch dessen Risikoklassifikation bestimmt wird.
Die Expertengruppe glaubt jedoch nicht, dass solch ein Ansatz im Moment zum allgemeinen Standard wird.
Zusätzlich zur oben beschriebenen Risikoklassifikation und einer Diskussion der risikoangepassten Therapie präsentiert das kürzlich veröffentlichte Konsensuspapier die aktuellen Meinungen der Experten zu der Notwendigkeit einer Risikoklassifikation und erklärt die Kriterien, die für die Risikoklassifikation verwendet werden können.
Die Notwendigkeit einer Risikoklassifikation
Dem Konsensuspapier zufolge ist einer der wichtigsten Gründe für die Notwendigkeit einer Risikoklassifikation die Möglichkeit, einen Patienten über seine Prognose zu informieren. Es ermöglicht Ärzten, auf die Frage des Patienten: “Wie lange lebe ich noch?" die erwartete Überlebenszeit als Antwort zur Verfügung zu stellen (siehe verwandte Nachrichten von Myeloma Beacon über die Myelomprognose; auf Englisch).
Zweitens behaupten die Experten, dass eine Risikoklassifikation den Weg für eine risikoangepasste Therapie ebnen kann. In der risikoangepassten Therapie wird die Behandlung eines Patienten auf Grundlage der Risikokategorie zusammengestellt. Zum Beispiel erhalten risikoreiche Patienten eine intensivere Behandlung als Patienten mit niedrigem Risiko (siehe verwandte Nachrichten von Myeloma Beacon; auf Englisch). Ziel dieses Ansatzes ist es, Nebenwirkungen zu minimieren und dabei gleichzeitig die Vorteile der Behandlung zu maximieren.
Die risikoangepasste Therapie wird bereits für die akute myeloische Leukämie und das Hodgkin Lymphom angewandt, bei denen Patienten mit niedrigem Risiko mit einer nichtintensiven Behandlung geheilt werden können.
Es besteht jedoch das Argument, dass dieser Ansatz nicht für das Myelom gilt, da das Myelom noch als unheilbar betrachtet wird. Stattdessen sollten alle Myelompatienten die wirksamste verfügbare Behandlung erhalten.
Die Forscher schlagen vor, dass die Identifizierung von Myelompatienten mit niedrigem Risiko, die wahrscheinlich 10 Jahre oder länger leben werden, das Argument für eine risikoangepasste Therapie beim Myelom stärken kann.
Die Forscher führen ebenfalls an, dass die Risikoklassifikation ein nützliches Hilfsmittel zur Prüfung neuer therapeutischer Strategien ist. Zum Beispiel weisen sie darauf hin, dass Strategien ohne Hochdosischemotherapie und Stammzelltransplantation für Patienten mit niedrigem Risiko geprüft werden können, während intensivere Strategien für risikoreiche Patienten geprüft werden müssen, die mit aktuellen Behandlungsstrategien ein schlechtes Ergebnis erzielen.
Faktoren für die Risikoklassifikation
Zur Ermittlung sinnvoller Risikoklassifikationskriterien zogen die Experten mehrere Faktoren in Betracht, die mit einer schlechteren Myelomprognose verbunden sind. Sie haben diese Risikofaktoren in Patienten-bedingte Faktoren und Tumor-bedingte Faktoren eingeteilt.
Alter
Die Forscher schlussfolgern, dass der wichtigste Patienten-bedingte Faktor bei der Bestimmung des Myelomrisikos das Alter ist. Mehrere frühere Studien haben gezeigt, dass jüngeres Alter bei Myelomdiagnose mit einem verlängerten Überleben verbunden ist (siehe verwandte Nachrichten von Myeloma Beacon; auf Englisch, und den neuen Artikel über den Einfluss von Rasse und Alter auf das Überleben beim multiple Myelom; auf Englisch).
Chromosomale Abnormitäten und Genexpressionsprofile
Laut Konsensus sind die wichtigsten Tumor-bedingten Risikofaktoren die Anwesenheit bestimmter chromosomaler Abnormitäten und das Genexpressionsprofil der Myelomzellen des Patienten.
Chromosomale Abnormitäten sind Änderungen in der Struktur des genetischen Materials der Zelle. Diese Änderungen können durch Deletionen (Chromosomenverluste), Insertionen (Einfügungen), Verdoppelungen oder Translokationen (Bewegung von Stücken genetischen Materials) vorkommen.
Die Experten weisen darauf hin, dass die Translokation t(4; 14) und die Deletion del(17p13) in mehreren Studien mit einem schlechteren Überleben verbunden sind. Die Effekte der Translokation t(14; 16) und 1q21 für die Krankheitsprognose sind umstritten. Jedoch schreiben die Forscher, dass der Mangel eines 1q21 Zugewinns nützlich sei kann, um Patienten mit einer guten Prognose zu identifizieren.
Nachdem mehrere Studien sogar Unterschiede in der Prognose bei Personen mit chromosomalen Abnormitäten offenbart haben, schlussfolgern die Experten, dass chromosomale Abnormitäten als ein eigenständiger Risikofaktor nicht unbedingt optimal sind. Sie weisen darauf hin, dass die Kombination von chromosomalen Abnormitäten mit anderen Faktoren ihren prognostischen Wert verbessern könnte.
Beim „Gene expression profiling“ wird die Tätigkeit von Tausenden von Genen in Myelomzellen eines Patienten gleichzeitig gemessen. Man generiert dabei eine Momentaufnahme bzw. ein Profil von allen Aktivitäten innerhalb der Zellen.
Frühere Studien haben mehrere Genexpressionsprofile identifiziert, die mit einer schlechten Krankheitsprognose verbunden sind.
Die Experten bemerken jedoch, dass die klinische Anwendung des „Gene expression profiling“ wegen drei wichtiger Faktoren beschränkt bleibt: (1) der Mangel an einem standardisierten Genexpressionsprofil für Myelomzellen, (2) der Mangel an der Reproduzierbarkeit der Technik und (3) die Schwierigkeit der Analyse und Interpretation der komplizierten Daten, die vom Genexpressionsprofil erzeugt werden.
Um den Mangel an einem standardisierten Profil zu beheben, führt der IMWG zurzeit eine Studie durch, die mehrere bekannte Genexpressionsprofile verbindet, um einen einheitlichen Satz von Profilen zu erzeugen, der dann geprüft wird.
Krankheitsstadium
Das International Staging System (ISS) verwendet eine Kombination von β2-Mikroglobulin-und Albumin-Werten im Blut, um Patienten in drei Krankheitsstufen einzuteilen. Studien haben gezeigt, dass ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium mit einem schlechteren Überleben verbunden ist. Das ISS zieht jedoch chromosomale Abnormitäten nicht in Betracht.
Auf Grundlage neuerer Studien bemerken die Experten in dem Konsensuspapier, dass ein Modell, das die ISS-Klassifikation mit chromosomalen Abnormitäten verbindet, bei der Risikovoraussage wirksamer sein könnte.
Sie fügen hinzu, dass Ergebnisse einer neuen IMWG Analyse zeigen, dass sich mit der ISS-Klassifikation und der Anwesenheit oder Abwesenheit von t(4; 14) und del(17p13) die Patienten zuverlässig in drei Risikogruppen einteilen lassen.
Ansprechen des Tumors auf die Behandlung
Wie ein Myelom eines Patienten auf die Behandlung anspricht, ist ein Risikofaktor, der nur nach einer Therapie beurteilt werden kann.
Wenn der Patient nicht mindestens ein teilweises Ansprechen auf die Behandlung - oder mindestens eine sehr gute teilweise Remission nach Stammzelltransplantation erreicht – reflektiert dies den Widerstand gegen die Behandlung und ist mit einem schlechteren Krankheitsergebnis verbunden. Die Experten weisen darauf hin, dass ein frühes Rezidiv oder ein fehlendes Ansprechen auf die Behandlung ein Hinweis auf eine sehr schlechte Prognose ist.
Konsensusdefinition der Risikogrupen
Die Forscher haben versucht, aus den oben besprochenen Risikofaktoren die für die Risikoklassifikation relevantesten Faktoren zu identifizieren.
Eine von der IMWG im März veröffentlichte Studie hat gezeigt, dass die Kombination der ISS Klassifikation mit Daten über chromosomale Abnormitäten die Risikobewertung beim Myelom deutlich verbessert. Insbesondere hat die Studie drei wichtige chromosomale Abnormitäten identifiziert: t(4; 14), del(17p13) und 1q21 Zugewinn, die mit der „Fluoreszenz in situ Hybridisierung“-Technik (FISH) bestimmt wurden.
Die Experten haben sich bei der Erstellung der endgültigen Risikosklassifikation von den die Ergebnissen dieser Studie leiten lassen. Die endgültige Risikosklassifikation sieht folgendermassen aus:
- Hohes Risiko - Patienten, die ISS Stadium II/III sind und deren Myelomzellen die Translokation t(4; 14) oder die Deletion del(17p13) enthalten, werden als risikoreich klassifiziert. Ungefähr 20 Prozent der Patienten fallen zum Zeitpunkt der Diagnose in diese Kategorie. Ihr mittleres Gesamtüberleben beträgt zwei Jahre nach Diagnosestellung.
- Niedriges Risiko - Patienten, die ISS Stadium I oder II und jünger als 55 Jahre sind und deren Myelomzellen keine t(4; 14), del(17p13) oder 1q21-Veränderungen enthalten, werden in die niedrige Risikogruppe eingestuft. Ungefähr 20 Prozent der Patienten fallen zum Zeitpunkt der Diagnose in diese Kategorie. Ihr mittleres Gesamtüberleben beträgt mehr als 10 Jahre nach Diagnosestellung.
- Standardrisiko - Die restlichen 60 Prozent der Patienten werden in die Standardrisikogruppe eingestuft. Ihr mittleres Gesamtüberleben beträgt sieben Jahren nach Diagnosestellung.
Die Experten bemerken, dass die beiden Tumor-bedingten Faktoren in der neuen Einteilung - ISS Stadium, das auf β2-Mikroglobulin- und Albumin-Werten im Blut basiert, sowie die chromosomalen Abnormitäten t(4; 14), del(17p13) und 1q21 (gemessen unter Verwendung der FISH-Technik) - auf robusten Laboruntersuchungen basieren und bei mehr als 90 Prozent aller Myelompatienten anwendbar sind.
Experten empfehlen noch keine risikoangepasste Therapie
Trotz der Definition eines ihrer Meinung nach robusten Risikoklassifikationssystems für das Myelom, schreiben die Experten in ihrem Konsensuspapier, dass "wir noch immer nicht in der Lage sind, unterschiedliche Behandlungen für Patienten in unterschiedlichen Risikogruppen zu empfehlen."
Statt dessen empfehlen die Experten, dass "alle Patienten die optimalste Behandlungen erhalten sollten, die in klinischen Phase 3-Studien geprüft sind," mit Dosis-Modifizierung nach Patienten-bedingten Faktoren.
Die einzige im Konsensusbericht festgesetzte Ausnahme ist, dass die Experten den Einsatz von Velcade (Bortezomib)-basierte Erst- und Erhaltungstherapien für Patienten mit t(4; 14) empfehlen. Die Forscher gaben diese Empfehlung auf Grundlage mehrerer Studien, die gezeigt haben, dass die Velcade-basierte Behandlung das mit der t(4; 14) Abnormität verbundene erhöhte Risiko reduziert.
Obwohl die Experten zurzeit keine risikoangepasste Therapie empfehlen, bemerken sie, dass die Risikoklassifikation ein nützliches Hilfsmittel bieten kann, um zwischen verschiedenen Behandlungsoptionen auswählen zu können. Sie führen als Beispiel an, dass ein Patient mit niedrigem Risiko potenziell eine Behandlung mit niedrigeren Kosten und Toxizität wählen könne, selbst wenn es mit einer reduzierten Wirkung verbunden wäre.
Die Forscher schreiben, dass solche Entscheidungen auch von der Behandlungsphilosophie des Arztes abhängig sind, der die Krankheit entweder heilen (aggressive Behandlung mit dem Ziel, eine komplette Remission zu erreichen) oder kontrollieren will (weniger aggressive Behandlung mit dem Fokus auf der Krankheitskontrolle und Lebensqualität).
Die Experten empfehlen, dass zukünftige Studien die in dem Konsensuspapier definierten Risikogruppen auf der zu Grunde liegenden Biologie der Myelomzellen weiter zu verfeinern.
Für weitere Informationen, siehe bitte den Konsensusbericht in der Zeitschrift Leukemia (auf Englisch).
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